Es gibt Gerichtsverfahren vor dem Amtsgericht, da ist der Amtsrichter erste und letzte Tatsacheninstanz zugleich. Nämlich dann, wenn die erforderliche Berufungsgrenze von 600 EUR nicht überschritten wird. Dann ist eine Berufung nur zulässig, wenn diese vom Amtsgericht im Urteil zugelassen wird (§ 511 Abs. 2 ZPO).

Hinzu kommt auch, dass das Gericht bei Streitwerten bis 600 EUR
sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen kann (§ 495a ZPO).

Daher gibt es auch das Sprichwort, wonach sich über dem Amtsgericht bei Streitwerten bis 600 EUR nur noch „der blaue Himmel“ befindet (und keine weitere Instanz mehr). Amtsgerichte haben also in solchen Fällen, um es karnevalistisch auszudrücken, sehr weitgehende Narrenfreiheit.

In einem aktuellen Fall von mir wurde es mit dieser Narrenfreiheit meines Erachtens aber leicht übertrieben.

Meine Mandantin wurde auf Schadensersatz verklagt, weil sie im Rahmen eines Reparaturauftrags das Eigentum des Klägers beschädigt haben soll. Wir sind dem entgegengetreten und haben vorgetragen,

  1. dass die angebliche Beschädigung bereits bei Übergabe an meine Mandantin vorhanden war und

  2. dass es sich um keine Beschädigung, sondern um nutzungs- und altersbedingten Verschleiß handelt.

Hierfür habe ich im Rahmen der Klageerwiderung als Beweismittel mehrere Zeugen und die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten.

Das Gericht hörte dann in der mündlichen Verhandlung zwei Zeugen an, einen der Klägerseite und einen der von mir angebotenen Zeugen. Auf meinen Einwand hin, warum nur ein Zeuge geladen worden sei, meinte der Richter, er habe zunächst von der Ladung der weiteren Zeugen abgesehen, da er zuerst den Zeugen hören wollte, der am nächsten am Thema sei. Kann man sicher so machen. Es gibt ja keine Vorschrift, wonach die Beweisaufnahme vollständig in einem Termin zu erfolgen hat.

Das Gericht meinte dann aber offenbar, keine weiteren Zeugen anhören zu müssen. Es erließ nämlich ohne vorherigen Hinweis im Verkündungstermin ein Urteil. Die Aussage des klägerischen Zeugen sei glaubhaft, die unseres Zeugen dagegen nicht.

So einfach kann man es sich machen. Kein Wort im Urteil zu den weiteren Beweisangeboten von unserer Seite. Das Urteil liest sich vielmehr so, als habe es diese weiteren Beweisangebote überhaupt nicht gegeben.

Eigentlich ein klarer Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz:

„Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.“

(Art. 103 Abs. 1 GG)

Zum rechtlichen Gehör zählt auch, dass das Gericht erheblichen Beweisangeboten grundsätzlich nachzugehen hat. Der BGH hat dies wie folgt beschrieben:

„Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2010 - VIII ZR 212/07, NJW-RR 2010, 1217 Rn. 10 mwN - std. Rspr.). Das gilt insbesondere dann, wenn die Nichterhebung des Beweises auf vorweggenommener tatrichterlicher Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2008 - IV ZR 341/07, RuS 2010, 64; BVerfG, NJW 2009, 1585 Rn. 34; NJW-RR 2001, 1006, 1007 - jeweils mwN - std. Rspr.). Eine unzulässige Beweisantizipation liegt vor, wenn ein angebotener Zeugenbeweis deshalb nicht erhoben wird, weil das Gericht dessen Bekundungen wegen seiner bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimisst (vgl. BVerfG, NJW-RR 2001, 1006, 1007). Die Nichterhebung eines angebotenen Beweises mit der Begründung, es sei bereits das Gegenteil erwiesen, ist grundsätzlich unzulässig (Senat, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZR 182/10, juris Rn. 11, mwN).“

(BGH, Beschluss vom 06. Februar 2014 — V ZR 262/13)

Ich werde meiner Mandantin daher raten müssen, über eine Berufung nachzudenken. Denn zum Glück schwebt in diesem Verfahren über dem Amtsgericht nicht mehr nur der besagte blaue Himmel. Der Streitwert lag über 600 EUR, sodass der Weg zum Landgericht eröffnet ist.

(Natürlich hätte man gegen einen Grundrechtsverstoß auch unterhalb von 600 EUR vorgehen können, der Weg ist dann aber deutlich schwieriger als über die II. Instanz vor dem Landgericht)